Wie alles anfing
Über das ganze karierte Blatt sind mit entschiedenem Bleistiftstrich zwei Diagonalen gezogen, die die einander gegenüberliegenden Bildecken verbinden. Ein großes „X“, in dessen Mitte ein kräftiges zweiteiliges Strichgekrakel entfernt an einen Schnurrbart erinnert. Und rechts unten auf dem Papier hat meine Mutter notiert: Quint April 61 „Herr Jesus am Kreuz“.
Es war das erste meiner Bilder, das sie aufgehoben hat.
Auf einer ein knappes Jahr später entstandenen Farbstiftzeichnung erkennt man – wiederum dank der Beschriftung – dass das kleine Strichmännchen neben einem rotem Etwas in einem Viereck Maria sein muss und die viel größere Figur im Pullover mit bunten Längsstreifen ihr Sohn Jesus, der „schon groß ist, aber die Krippe haben sie noch im Stall stehen gelassen, falls Maria nochmal ein Kind zur Welt bringt.“
Mit „Mai 1963“ datiert ist eine kleine Bleistiftzeichnung mit einem Gekreuzigten, zwei Bussen und mehreren kleinen Figuren, fast alle mit Schirmmützen und Pistolen: „Jesus ist ans Kreuz genagelt, da kommen Polizisten mit zwei „grünen Minnas“ und ein Polizist erschießt den Mann, der Jesus ans Kreuz genagelt hat.“
Ich malte aber auch Häuser und Blumenwiesen mit riesigen Sonnenblumen; einen Frachtkahn, der unter einer Neckarbrücke hindurchfährt; meinen Schulweg am ersten Schultag, im Hintergrund ein Krankenwagen mit Blaulicht und Sirene, die Ampel steht auf Rot.
Zum Muttertag schenkte ich meiner Mutter ein Selbstportrait als Gratulant: Kerzengerade und mit ordentlich gezogenem Scheitel, in grauer Sonntagshose und weißem Nyltest-Hemd, die linke Hand an der Hosennaht und in der ausgestreckten rechten einen Strauß Tulpen.
Wie auf allen Selbstbildnissen zeichnete ich mich mit Brille und Narbe auf der Stirn. Ein schräger roter Strich, der dort war, seit ich mit zwei Jahren auf der wenig befahrenen Straße vor unserem Haus in ein Auto gelaufen war.
Meine Mutter ging mit uns Kindern oft in Stuttgart in die Staatsgalerie, und manche der Bilder dort wurden mit der Zeit fast zu guten Bekannten, denen man ab und zu einen Besuch abstattete und die ich dann zu Hause aus dem Gedächtnis nachzumalen versuchte.
Eine ganze Serie von Zeichnungen war Henry Moores Plastik „Drapierte liegende Frau“ gewidmet – im Volksmund einfach „Die Liegende“ genannt – und einem unbekannten Mann, der seinen angeleinten Pudel auf der Bronzefigur mit dem breiten Körper und dem winzigen Kopf herumklettern ließ.
Ein besonderes Talent ist auf diesen Bildern noch kaum zu erkennen. Ich malte höchstens etwas mehr als andere Kinder, da wir – in einem Haus ohne Fernseher – oft malten, wenn es regnete und uns langweilig war, was ich bis heute für kein schlechtes Motiv halte.
Im Wohnzimmer gab es neben der Literatur und den Nachschlagewerken auch zwei Regalbretter mit Bildbänden über Dürer, Rembrandt oder Goya, mit den Stierkampfbildern Pablo Picassos und den Zeichnungen von Wilhelm Busch und Heinrich Zille, außerdem ein paar Fotobücher.
Die drei Ölgemälde an der Wand über dem Sofa, sonnendurchflutete Stadtansichten von Istanbul, hatten meine Eltern aus der Türkei mitgebracht, wo sie sich kennen gelernt und und in den dreißiger und vierziger Jahren einige Zeit in einem Haus am Bosporus gelebt hatten.
Über meinen Vater kann ich im Zusammenhang mit Bildern sonst nicht viel sagen. Ich glaube, er wusste einiges über die Kunstgeschichte und hatte auch ein gewisses zeichnerisches Talent. Manchmal entwarf er Grundrisse für prächtige, schlossähnliche Wohnhäuser, die er natürlich nie baute, und ein oder zwei Mal zeigte er mir ein paar harmlose Zeichenkunststücke, die er kannte.
Aber eigentlich war er fast immer im Büro, und auch zu Hause arbeitete er viel, rauchte von morgens bis abends eine Zigarette nach der anderen und lebte meistens in seiner eigenen Welt, weit weg von unserem Kinderalltag.
Michael kam während der Grundschulzeit neu in unsere Klasse. Michael zeichnete immer, in jeder freien Minute, auch im Unterricht, und immer in ein großes blaues Heft. Er füllte die Seiten langsam aber stetig mit hunderten winziger Menschen, mit Dutzenden von minutiös ausgearbeiteten Schiffen oder mit einem Himmel voller Flugzeuge. Er zeichnete viele Tage an einer einzigen Doppelseite. Dass Papier ein kostbares Gut war, das man nicht verschwenden durfte, sah man, wenn man ihm beim Zeichnen zuschaute.
Seine Mutter war Bildhauerin, sein Vater Maler und Zeichenlehrer. Dort, wo, wie ich es sonst kannte, eigentlich das Wohn- und das Esszimmer hätten sein müssen, befand sich bei den von Boltensterns ein zweigeteiltes Atelier, in dem eben auch noch ein Esstisch und ein Teetisch standen.
Es war das erste Atelier, das ich betreten habe. Ein großer, lichter Raum mit einem Erker und mit einer seltsam aufgeladenen Stille. Kleine Tableaus mit Menschengruppen aus Bronze standen auf den Regalen, und an den Wänden hingen in einer langen Reihe und in nur zwei verschiedenen Formaten unglaublich fein gemalte Aquarelle: Weite, farbenfrohe und etwas entrückt wirkende Landschaften, Städtebilder oder Szenen am Meer, meistens sonnenbeschienen und bevölkert von unzähligen winzigen Menschen und Tieren.
Auf dem Maltisch des Vaters standen in zwei großen Bechern hunderte, wirklich hunderte von neuen und gebrauchten dünnen und dünnsten Aquarellpinseln.
Ich weiß nicht, ob das wirklich miteinander zu tun hat, auf jeden Fall müssen bis heute die Pinselgläser, die ich im Atelier stehen habe, immer voll sein mit viel zu vielen Pinseln. Ich bräuchte Jahre, um sie zu verbrauchen, vielleicht reichen sie inzwischen auch schon längst, bis meine Hand keinen Pinsel mehr halten kann. Aber diese Vorräte beruhigen mich.
Jedenfalls saß ich damals bald neben Michael in der Schulbank und hatte auch so ein großes blaues Heft, dessen Seiten ich in jeder freien Minute mit kleinen Figuren, Schiffen oder Flugzeugen füllte. Allerdings sah ich sehr wohl den Unterschied zwischen seiner gekonnten, präzisen Leichtigkeit und meinem, wie es mir schien, dagegen so schwerfälligen Bemühen. Aber er akzeptierte mich als eine Art Weggefährten und manchmal lobte er mich sogar.
Die erste Frau, die ich so unglaublich schön fand, dass ich sie unbedingt genau so malen wollte, wie sie vor einem glutrotem Himmel Omar Sharif anschmachtete, war Julie Christie. Der Film „Doktor Schiwago“ war ab zwölf und lief viele Monate lang im Atriumkino. Aber ich war erst neun, so war das Foto auf der Plattenhülle der Filmmusik alles, was ich anschauen konnte, wenn meine älteren Geschwister mir von dem Film vorschwärmten, in den sie alle mehrmals gingen.
Meine Schwester Imke hütete die Single wie ihren Augapfel, also beschloss ich, das Bild von Lara, die so blond war, so wehmütig schaute und so breite, wundervoll geschminkte Lippen hatte, für mich abzuzeichnen in einer stillen Stunde, wenn niemand sonst zu Hause war. Es war mir ja alles auch ein bisschen peinlich.
Einen verregneten Nachmittag lang saß ich mit Bleistift und Farbstiften allein am Wohnzimmertisch unter der Stehlampe und hörte wieder und wieder die „Schiwago-Melodie“ auf unserem alten Plattenspieler. Ich versuchte und verwarf und fing von Neuem an, aber es gelang nicht. Am Ende pauste ich sie sogar an der Fensterscheibe durch auf dünnes Papier, ein für einen anspruchsvollen werdenden Künstler damals eigentlich entwürdigendes Verfahren, aber nichtmal da wurde Lara auch nur annähernd so schön, wie ich sie doch sah.
Als die anderen am Abend nach Hause kamen, lagen alle meine Versuche im Papierkorb und ich habe niemals jemandem ein Wort davon erzählt.
Immer wieder waren es meine großen Brüder, der eine fünfzehn, der andere zehn Jahre älter als ich, die mich beeindruckten und anspornten. So unterschiedlich sie waren, an beiden sah ich, dass man sich ausgiebig und ernsthaft mit dem Bildermalen beschäftigen konnte. Dass man spielen konnte mit Farben und Materialien. Dass man Techniken und das Sehen üben konnte. Und sich nicht zu schnell mit einem Ergebnis zufrieden zu geben brauchte.
Ich lernte, dass es verschiedene Papiere für unterschiedliche Farben gab, harte und weiche Bleistifte und gute und nicht so gute Buntstifte. Und dass Filzstifte, die damals gerade in Mode kamen, zum Malen eigentlich das Letzte sind.
Herr S., ein nach Schnaps riechender und mit den Jahren bitter und boshaft gewordener Zeichenlehrer, quälte uns in den ersten Gymnasiumsjahren mit stupiden Malaufgaben, mit seinem Zynismus und endlosen Strafarbeiten. Egal wie viel oder wie wenig Mühe ich mir gab, alle meine Arbeiten benotete er mit einer 4, an freundlichen Tagen mit einer 3.
Wie häufig höre ich heute auf meinen Vernissagen den Satz „Wissen Sie, ich kann ja überhaupt nicht zeichnen.“ Und wenn ich mich dann erkundige, woher mein Gegenüber das denn so genau wisse, ist die Antwort darauf fast immer dieselbe: „Ja, das war schon in der Schule so.“ Es wäre gut möglich gewesen, dass auch ich das in der Schule gelernt hätte.
Im Gymnasium freundete ich mich mit einem weiteren Michael an. Seine Eltern wohnten nicht weit von uns entfernt, und in ihrem großzügigen, im Bauhausstil erbauten Haus gab es Werke, wie ich sie bisher nur aus dem Museum kannte. Vasen von Picasso, Skulpturen von Lembruck oder Barlach, und an den Wänden alle großen Namen des Expressionismus, die meisten davon mit mehreren Gemälden vertreten. Was man an den Wänden sah, war aber nur ein kleiner Teil der Sammlung, die wie ich erst viel später erfuhr, allein über 180 Werke von Ernst Ludwig Kirchner umfasste.
Das Haus war wie ein Museum, und doch war es gleichzeitig auch ein ganz normales Wohnhaus, in dem mein Schulfreund mit seinen Eltern lebte, wo wir gemeinsam Hausaufgaben machten, Musik hörten und erste Zigaretten rauchten. Und wenn ich ihn zum Fussballspielen abholte, dann sauste ich die Treppe zu seinem Zimmer hoch vorbei an Originalen von Feininger, Macke, Nolde, Schlemmer und Schmidt-Rottluff, die sein Vater, ein nobler alter Herr, über Jahrzehnte gesammelt hatte.
Sein Vater, der Max hieß wie viel später der Maler in meinem Buch „Der Sammler der Augenblicke“.
Mein erstes Geld mit der Kunst verdiente ich mit fünfzehn. Ich malte das berühmte Che-Guevara-Bildnis mit Plakafarben in Serie auf Din A 4 Pappen, die ich von den Rückseiten der Briefblöcke im Schreibtisch meiner Mutter entfernt hatte, bot die Bilder in der Schule für zwei Mark an und ließ mich von guten Freunden auf eine Mark herunterhandeln.
Und noch ein Mitschüler war prägend, auch wenn er gar nichts mit Malerei zu tun hatte. Uwe kam aus Essen in unsere Klasse, wohlerzogen, bibelfest und blitzgescheit, aber auch ein bisschen brav. Er spielte Schach, kannte sich in Geschichte aus, sammelte Briefmarken und Bibelausgaben, hatte im Zeugnis außer in Sport lauter gute Noten und war, wie es schien, seinen Eltern und Lehrern nichts als die reine Freude.
Aber dann, von einem Tag auf den anderen, verschenkte er plötzlich all seine Schachbücher und Bibeln, ließ sich die Haare wachsen, trug Jeans und Parka und rauchte wie wir anderen auch.
Aber Uwe las jetzt auch Beckett und Brecht und Jandl, und das mit großem Ernst. Er fing an, selber Gedichte und Theaterstücke schreiben, beteiligte sich schon mit sechzehn erfolgreich an einem Schreibwettbewerb und überforderte seine Deutschlehrer nun gerne mit genialischen und formal eigenwilligen Aufsätzen, für die er sehenden Auges und sehr kompromisslos für ihn ungewohnt schlechte Noten in Kauf nahm. Er ging außerdem andauernd ins Theater und nahm uns natürlich dorthin mit, als gäbe es dazu überhaupt keine Alternative. Und etwas später inszenierte er eigene Theaterstücke, für die er ein richtiges Theater mietete und mit großer Selbstverständlichkeit die halbe Klasse als Schauspieler, Bühnenbildner und Techniker verpflichtete.
Es waren zwei Haltungen, zu denen Uwe uns ermutigte. Die eine Botschaft lautete: trau dich, das zu machen, was dich interessiert, woran du glaubst. Probier dich aus und kümmere dich nicht darum, was andere davon halten. Die andere hieß – und da hörten wir ihm viel neugieriger zu als manchen Erwachsenen: Bücher sind wichtig, Theater ist wichtig, Autorenfilme sind wichtig. Bob Dylans Texte sind wichtig, aber die der griechischen Philosophen sind es auch.
Ich weiß noch, wie ich nach einem langen nächtlichen Gespräch mit Uwe ganz deutlich dachte – oder eigentlich genau wusste: wenn du es ernst meinst und aus dem Malen noch mal etwas werden soll, dann musst du jetzt sofort richtig anfangen. Da waren wir gerade sechzehn, mit einem Interrail-Ticket unterwegs und verbrachten die Nacht in einem durchgehend geöffneten Café in London, weil wir es verpasst hatten, rechtzeitig einen Platz in der Jugendherberge reservieren zu lassen.
Also kaufte ich Zeichenkohle, Oelfarben und Malpappen – ohne zu wissen, wie man damit malt.
Zuerst kopierte ich, so gut es ging, einige Bilder aus der blauen Periode von Picasso, die ich als Postkarten besaß. Außerdem zeichnete ich alles, was ich sah: das Fenster meines Zimmers, eine ausgedrückte Uhutube, einen Kerzenständer aus Messing, meine Schwester Imke, wie sie Schreib-maschine schreibt, meine Freunde, wenn sie zu Besuch kamen, und mich selber oder auch nur meine Nase in Großaufnahme. Eine Zeichnung von damals heißt „Uwes Schuh“.
Mehr und mehr fing ich an, mir eigene Bilder auszudenken, länger an einzelnen Ideen zu arbeiten und dabei oft mehrere Variationen zu einem Thema auszuprobieren. Ich nahm mir viel mehr Zeit zum Malen und versuchte, richtige „Bilder“ zu finden. Ich malte irreale Traumsszenerien, die entfernt mit eigenen Erfahrungen zu tun hatten, aber auch – nach Zeitungsfotos – hungernde Kinder in Bangla Desh oder Szenen aus dem Vietnamkrieg.
Ich entdeckte, dass ich in meinen Bildern Dinge ausdrücken konnte, die auszusprechen ich mich nicht getraute oder für die ich überhaupt keine Worte hatte. Dass mich das Malen aufwühlen, aber auch vollkommen beruhigen konnte. Ohne dass ich das hätte benennen können, wurden die Bilder, wurde aber vor allem der Zustand des Malens selbst zu einem Ort, an dem ich sein konnte und mich geborgen fühlte. An dem ich bei mir war und wenigstens einige Fragen dieser verwirrenden Welt etwas genauer erkunden konnte.
Mein ältester Bruder Rolf, der uns an manchen Wochenenden besuchte, kam jetzt meistens als erstes in mein Zimmer und fragte nach dem, was ich Neues gemalt hatte. Er schaute alles genau an, ermutigte mich an manchen Stellen und sagte ansonsten nicht viel. Und doch merkte ich, wenn ihm etwas gefiel und wann nicht. Vor allem aber spürte ich, dass er das ernst nahm, was ich machte. Und dass er wohl fand, dass ich weitermachen solle.
Er, der auch hätte Maler werden können und dann Medizin studiert hatte, beruhigte später meine Mutter und hielt sie davon ab, mich nach dem Abitur zu einer solideren Berufswahl zu drängen.
Sehr früh schon kaufte er Bilder von mir. Und als er fand, dass das möglich sein müsse, knüpfte er Kontakte zu Galerien und leitete meine ersten Ausstellungen in die Wege. Bisweilen macht er das beides noch heute.
Noch einmal ein Kindheitsbild: Im Mai 1965 war die Queen auf Staatsbesuch in Deutschland, und ihr großer Konvoi fuhr dabei nicht unweit unseres Hauses die Pischeckstraße hinunter. Elisabeth II., in ein umwerfendes gelbes Kostüm gekleidet und mit ebenso gelbem Hut auf dem Kopf, stand im offenen Mercedes 600 Pullmann neben einem sehr schwäbisch lächelnden Kurt Georg Kiesinger, damals noch Ministerpräsident von Baden-Württemberg, und ließ sich huldvoll winkend an uns ebenfalls Winkenden vorbeifahren.
Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich an der Queen lag und nicht viel mehr an diesem atemberaubenden prächtigen Mercedes, auf jeden Fall hielt ich wohl ziemlich beeindruckt dieses Ereignis auf einer genauen Zeichnung fest, die ich meiner großen Schwester Birte schickte.
Und diese Zeichnung lässt eine Fähigkeit erkennen, die ich vielleicht doch schon früh hatte. Das Auto ist von schräg oben gezeichnet und perspektivisch fast fehlerfrei – ungewöhnlich für einen Siebenjährigen.
Diese richtige Umsetzung der Perspektive hing vermutlich mit einem Sehfehler zusammen, den eine Augenärztin einige Zeit später bei mir entdeckte: Ich habe kein räumliches Sehvermögen. Ich nehme immer nur das aufgenommene Bild eines Auges wahr, das des anderen wird ausgeblendet. Versuche ich, mit beiden Augen gleichzeitig zu sehen, entstehen zwei sich überlagernde und sich langsam gegeneinander verschiebende Bilder, aber kein ganzes.
Wenn Sie sich nicht recht vorstellen können, was dabei anders ist, schließen Sie einfach mal ein Auge und versuchen dann, Wasser in ein Glas einzuschenken ohne mit der Flasche den Rand des Glases zu berühren und ohne etwas zu verschütten. Es geht natürlich, aber es ist viel schwieriger.
Beim Zeichnen kann dieser Defekt allerdings ein Vorteil sein: Ich muss den dreidimensional aufgenommenen Eindruck der Wirklichkeit nicht umdenken in ein zweidimensionales Bild. Wirklichkeit und Bild liegen für mich viel näher beieinander als bei normal sehenden Menschen und haben eine zumindest sehr ähnliche räumliche Wirkung. Ich brauchte also als Kind die Gesetze des perspektivischen Zeichnens nicht zu begreifen, sie waren bereits Bestandteil meiner Seherfahrung.
Vor Jahren habe ich festgestellt, daß auch mehrere meiner Kollegen, Reinhard Michl und Peter Schössow z. B., einen ähnlichen Sehdefekt mit derselben Wirkung haben.
Und inzwischen gibt es sogar eine wissenschaftliche Untersuchung zu diesem Thema: Die amerikanische Medizinerin Margaret Livingstone hat Selbstportraits und Portraitfotos zahlreicher großer Maler der Kunstgeschichte untersucht und ist dabei zu der Vermutung gelangt, dass Rembrandt ebenso wie Picasso, Frank Stella und andere alle nur ein richtig gut funktionierendes Auge hatten und deshalb nicht räumlich sehen konnten.
Ihr Artikel dazu im „New English Journal of Medicine“ legt den Schluss nahe, dass die Menschheit viele ihrer berühmtesten Gemälde neben einem göttlichen Funken auch einem menschlichen Sehfehler verdankt, der in mancher Künstlerbiografie schon in der Kindheit die Weichen gestellt haben könnte.
Quint Buchholz (2007/2018)